Spätestens seit der Weihnachtssaison 2017 steht fest: Immer mehr Kunden wünschen sich einen smarten Home-Assistant, der nicht nur den Wetterbericht oder die aktuellen Nachrichten zum Wunschthema liefern kann, sondern auch die geliebten Verbrauchsprodukte mit einem einfachen Befehl nachbestellt. Das zeigen die aktuellen Ergebnisse der Idealo Studie. Mit den entsprechenden Skills (also Fähigkeiten) liefert Amazons Alexa in Form von Echo, Dot oder Spot auch Essen von verfügbaren Restaurants bis zur Haustür und wickelt den Bezahlvorgang selbstständig ab. Möglich wird dies durch hinterlegte Kundendaten, zur Verfügung gestellte Bezahlmöglichkeiten und ein immer größer werdendes Netzwerk aus kooperierenden Unternehmen, die sich mit dem Sprachassistenten verknüpfen. Unterwegs hält Apples Sprachassistent Siri hilfreiche Informationen zur Routenplanung bereit, kann Veranstaltungstipps geben und eine passende Location für die nächste Verabredung finden. Was sich vor einigen Jahren noch äußerst futuristisch anhörte, ist längst nicht mehr pure Zukunftsvision oder neue Spielerei der Generation Y.
Intelligente Beleuchtung in Wohnräumen, per App gesteuerte Türschlösser oder Klimaanlagen sind in Häusern und Wohnungen längst vorhanden. Mit vollvernetzten Smart-TVs und weiteren Gadgets wird der Alltag zunehmend angereichert. Die nahtlose Verknüpfung aller Bereiche des Lebens mit dem Internet ermöglicht völlig neue Wege der Informationsvermittlung, Verfügbarkeit und letztlich auch des Einkaufens. Bestellt der Kühlschrank zukünftig selbstständig die Vorräte für die nächste Woche und erfüllt sogar Sonderwünsche? Food-Lieferdienste im Stil von Amazon Fresh und die Liefer-Bestrebungen der deutschen Einzelhandelsgrößen möchten dieses Kaufverhalten etablieren. Doch vielleicht sieht die Zukunft etwas anders aus, denn für viele eCommerce-Entscheider gilt: Voice Commerce ist das nächste große Ding.
Der große Sprung: Voice Commerce im Alltag
Nach dem Aufstehen den Einkauf per Sprachbefehl erledigen. Schon heute kann sich das so anhören: „Alexa, bestelle meine Lieblingsküchenrolle“. Doch wie beeinflussen Sprach-Assistenten tatsächlich das Kaufverhalten der Kunden? Fest steht: der Assistent hat die Kaufentscheidung im Blick und beeinflusst sie durch Selektion der vorgeschlagenen Angebote. Wer mit Amazons Echo bestellt, erhält bis zu drei Vorschläge. Dies wird mit der Optimierung der gesprochenen Informationen auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne der Kunden begründet. Wer Siri fragt, welche Lokale in der Nähe die präferierte Kulinarik anbieten, erhält ebenfalls eine begrenzte Vorschlagsliste, die auf Basis von Kriterien wie Umkreis, Bewertungen und vorherigen Suchanfragen zusammengestellt wird.
Die gesprochene Interaktion mit Assistenten und künstlichen Intelligenzen erfreut sich derzeit immer größerer Beliebtheit, während Kunden und Seitennutzer die Angebote von Chat-Bots nicht oder nur selten nutzen, zumindest nicht in Bereichen der Kundenberatung. Doch die Interaktion mit künstlichen Intelligenzen und auch das Shopping über intelligente Heimassistenten wird zu einem immer größeren kulturellen Phänomen, wie Memes, Social Media Beiträge und Berichte über fehlgeschlagene Bestellungen und erfreulich harmlose Missgeschicke in der Kommunikation beweisen. Auch auf der großen Leinwand wurde in Filmen wie „Her“ die Interaktion mit künstlichen Intelligenzen auf Smartphones bereits philosophisch und anthropologisch bearbeitet. Doch was bedeutet dieser kulturelle Wandel für den eCommerce?
Neue Fragen – hoffentlich dieselben Antworten
Sofern sich Sprach-Assistenten wie Googles Voice Search, Apples Siri und auch Google Home oder Amazon Alexa noch weiter im Alltag potenzieller Kunden ausbreiten, kann ein verändertes Suchverhalten prognostiziert werden. Beschränken sich Suchanfragen in Suchmaschinen momentan auf klassische Keywords – denn so haben sich Nutzer in ihrem Verhalten den Eingaben in Suchmaschinen angepasst – so wird die Loslösung vom geschriebenen Wort und sperrigen Long Tail Keywords im Stil von „Damen Regenjacke rot“ eine Wandlung der Suchbegriffe in komplexere Syntax begünstigen, die wiederum von der künstlichen Intelligenz in konkrete Suchanfragen umgesetzt werden muss. „Assistent, bestelle rote Regenjacke für mich in Größe M“ klingt deutlich menschlicher, wenn mit einem Assistenten wie mit dem/r Verkäufer/in im Laden gesprochen wird. Vielleicht wird die Hemmschwelle noch weiter sinken und eine Bestellung im Stil von „Ich möchte eine Regenjacke in Rot für mich kaufen“ mit der Zeit zum Regelfall werden.
Wie platzieren sich Händler in diesen vorselektierten Suchergebnissen? Vor allem Online Marketer stehen im Hinblick auf Voice Commerce vor einer sehr großen Herausforderung. Unklar bleibt: Sind mittlerweile über mehrere Jahre etablierte SEO-Strategien noch haltbar, oder muss eine völlige Neuanpassung auf Voice Commerce stattfinden? Bereits jetzt raten zahlreiche Agenturen zur Abkehr von generischen Keywords und zum Fokus auf natürliche – will heißen „menschliche“ – Suchbegriffe in syntaktischen Einheiten und Long Tail Format. Ist das die zukünftige Strategie? Bereits mit den letzten großen Updates wie Panda und Penguin hat Google Seiten abgestraft, die zu sehr auf Keyworddichte und Schlagwort-Spamming fokussiert waren, dem Nutzer keinen wirklichen Mehrwert bieten konnten oder wollten, deren Struktur nicht nutzerfreundlich war. Content gestaltet sich bereits jetzt deutlich anders als noch vor einigen Jahren. Erleben wir mit dem Einzug von Voice Commerce das nächste große Algorithmus-Update?
Zwei Wege stehen Händlern zur Wahl: zum Einen könnte die Platzierung auf großen Marktplätzen und damit in erster Linie Amazon für Brands noch relevanter werden. Denn so hat der Kunde mit seinem Amazon-Konto uneingeschränkte Möglichkeiten, das gewünschte Brand-Produkt schnell und per Sprachbefehl zu erwerben. Zweitens können für Amazons Echo eigene „Skills“ entwickelt werden, die eine direkte Verknüpfung von Angebot und Sprachbefehl zulassen. Doch welche Möglichkeiten eröffnen sich für Onlineshops, die ihre Kunden eigentlich auf ihren eigenen Shop leiten wollen? Das Kauferlebnis, das sie in den letzten Jahren so fokussiert und strategisch mit reichhaltigem Content und einer einzigartigen Experience aufgebaut haben, sowie die Bindung, die sie als quasi-Brand mit ihren Kunden eingegangen sind, sollen sich nicht durch Voice Commerce auflösen.
Fokus auf Sichtbarkeit, neue User Experience
Händler können sich nun Umwege suchen. So ist natürlich die Frage der Sichtbarkeit in den sehr begrenzten Suchergebnissen der stimmgerichteten Algorithmen eine besonders drängende. Jedoch ist noch vollkommen unklar, ob Suchanfragen per Stimme letztlich ein visuelles Shoppingerlebnis in allen Produktsortimenten ersetzen können. Insbesondere Mode und Artikel mit Designattributen wollen Kunden beim Shoppen zunächst sehen und dann kaufen. Beim Sprung in den Fashion eCommerce wurde diese Lücke durch die fehlende Haptik aufgemacht und mit ausführlichen Materialbeschreibungen, Kundengewöhnung und detaillierter visueller Unterstützung geschlossen. Ist nun der Verlust eines weiteren Sinneseindrucks denkbar? Für konkrete Produkte, die Kunden bereits kennen und zielgerichtet und mit klarer Kaufintention suchen, sind ausgefeilte visuelle Strategien auch bislang kein vordringliches Kaufkriterium gewesen: es zählten Verfügbarkeit, Preis und Lieferzeit, dazu softe Faktoren wie Vertrauen in den Shop und Bekanntheit der Shop-Brand.
Doch wie kann sprachgesteuertes Shopping aussehen, wenn keine klare Kaufintention besteht, wenn stattdessen klassisch gestöbert werden soll? Der Trend zum inspirierten Kaufen, den Händler und vor allem Shopping-Clubs in den letzten Jahren durch aufwändige Content- und nicht zuletzt Influencer-Kampagnen verfolgt und genährt haben, könnte nach wie vor das Suchverhalten und die Kaufintention potentieller Kunden beeinflussen. Szenarien wie die Inspiration auf Instagram mit anschließender Sprachsuche nach dem konkreten Produkt mit Hilfe des Assistenten sind denkbar. Doch werden sich Kunden aller Generationen auf diesen Umwegen zum Kauf inspirieren lassen? Vielleicht werden aufwändig produzierte Skills für Amazons Echo mit virtueller Beraterfunktion in angenehmer freundlicher Stimmlage diese Lücke schließen, letztlich sogar die Onlineshop-eigene, spezialisierte und für den Zielkunden perfekt maßgeschneiderte App ablösen. Denn noch bleibt abzuwarten, ob Smartphone-Nutzer letztlich nur noch einen Assistenten für viele verschiedene Zwecke einsetzen. Mit den eigens kreierten Onlineshop-Apps hatten Händler sich bisher einen persönlichen Platz im Smartphone und somit im Alltag ihrer Kunden gesichert. Wie relevant dieser Zugriffspunkt für zukünftige Einkäufe sein wird, kann nur schwer prognostiziert werden.
Konkrete Maßnahmen mit zahlreichen Möglichkeiten
In einer großen Umbruchphase wie dieser sind kreative Ideen, ein Gespür für die Masse und konkrete Angebote gefordert. Klar ist, auch wenn das Kaufverhalten der Nutzer in vielen Bereichen analysiert und statistisch erfasst werden kann, sind Trends doch immer wieder überraschend und unvorhersehbar. Mit dem Einzug smarter Heim-Assistenten und der durchbrochenen Hemmschwelle zur „menschlichen“ Kommunikation mit technischen Geräten wird sich – dank kommerzieller Nutzbarkeit – auch die Entwicklung von künstlichen Intelligenzen in den nächsten Jahren stark beschleunigen. Noch ungeahnte Möglichkeiten stecken unter diesen Voraussetzungen im Voice Commerce.
Nach allen Zukunftsphantasien ist klar: Konkrete Maßnahmen werden benötigt, um Umsatzeinbußen zu vermeiden. Empfehlenswert könnte deshalb durchaus sein, den eigenen Content-Bestand zu prüfen und zu überlegen, ob neue Strukturen, neue Inhalte und eventuell auch Audio-Formate Kunden langfristig zu binden vermögen. Ähnlich den nach wie vor für Händler relevanten Print-Katalogen sollten Onlineshops nicht den Fokus auf ihren visuellen Auftritt vernachlässigen, da diese virtuelle Tür sich voraussichtlich noch einige Jahre nicht schließen wird. Eventuell wird der eCommerce von dieser Entwicklung ausgehend kurzfristig eine neue Ausdifferenzierung mit zahlreichen neuen, immer bunteren Blüten erleben. Wer in diesem Kopf an Kopf rennen einen Meilenstein platzieren kann, könnte sich eine langfristig relevante Position innerhalb der Angebotsvielfalt sichern und Kunden diejenige Orientierung bieten, die gerade gesucht wird.
Traum und Wirklichkeit: Voice Commerce, Datenschutz und Zahlmöglichkeiten
Aller Zukunftsmusik zum Trotz, müssen eCommerce-Entscheider zwar optimistische, jedoch auch realistische Entscheidungsgrundlagen zur Umsetzung innovativer Ideen nutzen. Wer sich an Amazons Alexa bindet, kann alle Vorteile des großen Marktplatzes nutzen und muss sich nur bedingt mit Datenschutz, rechtlichen Grundlagen der Zahlung per Sprachbefehl und weiteren kritischen Faktoren beschäftigen. Jedoch: den eigenen Shop besuchen Kunden dann eventuell nur noch in sehr geringer Anzahl. Die Bindung an Brand, Shop und Kauferlebnis sähe dann gänzlich anders aus. Händler und Brands verlieren den direkten Zugang zu ihren Kunden, eine Monopolisierung des Handels wäre absehbar.
Wer sich platzieren möchte, sollte sich deshalb in erster Linie Gedanken um die eigene Sichtbarkeit für die relevante Zielgruppe machen, die Kundenbindung stärken und Angebote liefern, die den eigenen Zielkunden langfristig eine positive User Experience liefern. Ob die Bequemlichkeit der Kunden mittelfristig ein Vakuum außerhalb der Voice Plattformen erzeugt, kann noch nicht prognostiziert werden. Auf dem deutschen Markt ist vor allem das mangelnde Vertrauen in den Datenschutz der Heimassistenten eines der Kriterien gegen den Kauf. Noch ist die Hemmschwelle bei vielen Konsumenten zu groß.